Samstag, 17. Oktober 2009

E31 - Santiago de Compostela

Pedrouzo (Arca) bis Santiago de Compostela (km 787)
20 km, 4 Std, Pension 120E für 5 Nächte

Mit Jupp, den gestern wieder einmal getroffen habe, hätte ich eigentlich für heute Morgen abgemacht. Pünktlich um 8 stehe ich am Herbergseingang, aber da ist niemand. Wenn ich mit jemandem das letzte Stück gegangen wäre, dann mit ihm. Aber es ist niemand da. Das gibt's ja nicht; ich bin der letzte? Na ja, vielleicht besser so; Jupp erzählte mir nämlich, dass er auf den letzten Etappen in eine Gruppe geraten sei, von der er sich nicht mehr zu lösen getraue. Aber eigentlich nerve es ihn, weil da sei so ein ewiger Nörgler dabei, und eine anderer wolle immer haargenau wissen, wo auf der Wanderkarte man sich gerade befinde und halte dadurch die ganze Gruppe auf. Sie seien deshalb öfters nach Abends um 5 angekommen und drum auch vor vollen Herbergen gestanden. Ich frage mich nur, warum sich der gute Jupp das antut? Bei seiner Kondition wäre es doch ein leichtes, die Typen einfach stehen zu lassen? Er bestätigt mir immerhin, dass Frühpilgern seine Berechtigung hat: wenn es nicht voll war, dann war es doch meist eben komplett verdreckt oder es gab nur noch die schlechten Betten neben der WC-Türe.





Auch vor Santiago bin ich nicht der einzige Wanderer.

Heute bremst mich gar nichts mehr. Ich marschiere nicht, ich renne. Ich bin wie ein Komet, der von der Schwerkraft eines Planeten eingefangen wurde und nun immer schneller auf diesen zustürzt. Ich stelle mir den bombastischen Empfang vor, den man in Santiago für mich vorbereitet hat. Ich male mir aus, wie sich wildfremde Pilger vor Glückseligkeit um den Hals fallen und sich verküssen. Ich muss dann halt einfach aufpassen, neben wem ich stehe, so wegen dem Umarmen und so. Vieleicht treffe ich ja die herzige, kleine... äh... aber erst mal will die Kathedrale überhaupt gefunden werden. Man sähe sie schon vom 'monte do gozo', dem 'Berg der Freude' aus. Nur ich sehe natürlich wie immer nichts, also renne ich weiter. In Santiago selbst ist der Weg gut beschildert, aber sicherheitshalber frage ich, mittlerweile ganz mutig auf Spanisch, nach dem richtigen Weg. Dabei geht es mir weniger um die Richtungsangabe; ich möchte viel mehr zeigen: "He, Leute, ich bin hier, ich hab's geschafft!" Völlig blödsinnig, denn die sehen hier täglich hunderte, monatlich tausende und jährlich hunderttausend Pilger, die 'es' geschafft haben!


Kurz vor dem Ziel: die Gassen werden enger.



Stolzer Pilger vor der Kathedrale. Auch hier nicht der einzige...

Dementsprechend (und wie ehrlicherweise zu erwarten) fiel auch der glorreiche Einmarsch sehr unspektakulär aus. Ich hätte ja mindestens einen dicken, gelben Pfeil, eine finale Linie am Boden oder irgend eine Tafel, meinetwegen auf Spanisch und galizisch erwartet, die dem Pilger mitteilt, dass jetzt fertig ist mit marschieren. "You are here!" oder "Suche keine Pfeile mehr, denk wieder selbst" oder "Das Leben geht trotzdem weiter!", wie auch immer, aber da war nichts. Irgendwie muss man selber merken, dass man als Pilger stilgerecht nicht den Haupt-, sondern den Nordeingang nimmt, was ich auch tue. Das Haus ist zum Bersten voll. Ich platze mitten in die Messe, und was geschieht da? Nichts. Die machen einfach weiter, wie wenn nichts geschehen wäre! Dabei bin ich angekommen! Ich habe unterwegs noch gewitzelt, dass wir wohl kaum mit Händedruck und "well done!" einzeln empfangen werden, aber das hier stimmt mich schon ein bisschen depressiv. Wenn ich doch wenigstens ein bisschen kaputt wäre! Ob ich wohl die Pilger beneiden soll, die sich unter Qualen hierher geschleppt haben? Die fühlen sich jetzt sicher besser als ich. Mir ist es entschieden zu gut gegangen...


Die Hälfte meiner gesammelten Stempel im Pilgerpass, dem credential

Vom Pilgerbüro erwarte ich schon gar nichts mehr und werde darum auch nicht enttäuscht. Ich muss nicht mal Schlange stehen, sondern halte innert fünf Minuten meine Absolution in den Händen. Mein credential (Pilgerpass) scheint ausreichend Beweis für meine Compostela-Würdigkeit zu sein. Die junge Dame fragt mich nur kurz, ohne in meine Augen zu schauen, ob ich denn alles zu Fuss zurückgelegt habe, was ich wahrheitsgemäss und guten Gewissens bejahe. Dass ich sogar mein Gepäck jeden Meter getragen habe, interessiert sie nicht. Ich schreibe mich in eine Liste ein, wo ich bei den Beweggründen zur Wanderung nur noch auswählen kann zwischen "religiös" oder "spirituell und religiös". Komisch, am Start hatte ich doch eine viel grössere Auswahl!? Es schrumpfen also nicht nur Gepäck und Komfortansprüche, offenbar wir auch der moralische Unterbau komprimiert. Mit spirituell hätte ich mich, wie am Anfang der Reise beschrieben, noch anfreunden können, aber ich verspüre jetzt keine Lust, mit der sowieso bald an Gleichgültigkeit sterbenden Frau zu verhandeln, ob ich das 'und' in ein 'oder' umwandeln dürfe. Ich habe doch Grosszügigkeit gelernt! Wenn's für mich gilt. ist es in Ordnung! Ich kriege als Dank für meine Zurückhaltung einen Computerausdruck überreicht, in dem mit etwas gutem Willen mein handschriftlich eingetragener Name zu finden ist. Die Dame werkelt unbeirrt an ihrem PC weiter. Jetzt druckt sie sicher eine Hotelliste für mich aus oder sucht Verkehrsverbindungen in die Schweiz. Nichts dergleichen. Nach einer Minute frage ich dann mal nach: "That's it?" "Yes, that's it!" War wohl doch gut, dass ich sowohl Hotel als auch Busfahrt unterwegs selber organisiert habe. Sehr hilfreich scheinen die hier tatsächlich nicht zu sein.


Dieses Dokument würde mich von allen Sünden befreien. Wenn ich welche hätte...

Am Sonntag besuche ich nochmals die Pilgermesse, in die ich gestern schon aus Versehen reingeschneit bin. Das Haus ist überfüllt; zusätzlich zu den Pilgern strömen heute ja auch noch die normalen Kirchgänger herein. Die heutige Messe ist sozusagen meine, das heisst, meine Ankunft ist gestern registriert worden und wird heute in der Kathedrale öffentlich verlesen. Natürlich nicht namentlich, sondern gruppenweise nach Nationen geordnet. Der Herr am Mikrophon nuschelt aber so unverständlich, dass ich schon sehr genau hinhören muss. Wie es scheint, bin ich gestern der einzige angekommene Schweizer gewesen. Bei der Menge Leute in der Kirche kommt keine feierliche Stimmung auf, aber ich mache alles mit bis zum Schluss. Das riesige Weihrauchfass wird an einem Seilzug so heftig hin und her geschwenkt, dass ich froh bin, in einer der hinteren Bänke zu sitzen. Dem silbernen Schrein im Grab des Apostels statte ich einen ganz kurzen Besuch ab, und selbst die Statue umarme ich. Der gestrenge Blick desSicherheitsbeamten nimmt dem Moment etwas die Intimität.


Recht viel Volk. Wie das wohl zur Hochsaison zu und her geht?



...auch beim Grab des Apostels.

Alles erscheint mir überfüllt, die Kathedrale, die Bars, die Geschäfte, und vor allem viel zu laut. Ich fühle mich unter den vielen Leuten einsamer als alleine auf der Wanderung! Ziellos streune ich auf dem Kirchenvorplatz herum, in der Hoffnung, bekannte Gesichter zu sehen. Tatsächlich: Sean, der staunende Australier, ist wieder einmal total verblüfft, wo ich den wohl die schicke Kartonrolle herhabe, in der ich meine Compostela herumtrage. Nun, gleich neben dem Eingang zum Pilgerbüro kann man sich das Dokument laminieren lassen und bzw. oder eben stilgerecht zwecks sichererem in eine Rolle verpacken. Sean hat leider keine Zeit für mich: Ein ungeschriebenes Gesetz scheint zu sein, dass man mit in Santiago den Leuten zusammen bleibt, mit denen man die letzte Etappe gemacht hat. Pech für, ich bin dann halt wieder mal alleine. Jupp, mein Marathonkollege, hat sich auch nicht aus seiner Gruppe lösen können. Er begrüsst mich zwar herzlich, aber als seine Herde mir einfach den Rücken zudreht, entscheidet er sich gegen mich und ist weg. Gesehen habe ich. neben Sean und Jupp, das fesche Bayernmädel, Ingo und Ingrid und wahrscheinlich Astrid, das junge Paar aus Irland, die beiden Superfranzosen, den Mann mit den MTB-Schuhen, von Weitem den Manuel (D) und glücklicherweise die Trina, die es auch irgendwie hierher geschafft hat.



Mein Schlafzimmer in Santiago...


...und mein Wohnzimmer: das 'Cafe Casino'.

Ich irre ziellos in Santiago herum, laufe in Kreisen, manchmal drei, vier Stunden am Tag, aber kaum einen Kilometer Luftlinie vom Hotel entfernt. Hierher zu kommen war für mich definitiv einfacher als jetzt tatsächlich hier zu sein. Ich habe gelacht, als jemand erzählte, es gäbe hier ein Art Auffangstation für Pilger, die buchstäblich nicht mehr weiter wissen. Das Lachen ist mir vergangen, ich fühle mich auch nach ein paar Tagen verloren und einsam. Ich habe keine Tagesstruktur mehr, keine Pfeile denen ich folgen kann, kein Ziel, dass unverrückbar im Westen liegt. Und alles wird komplizierter. Die letzten paar Wochen konnte ich einfach an den Wegrand pinkeln, brauchte nicht mal einen Baum, aber in der Stadt geht das weniger gut. Da muss ich mir aseos oder servicios suchen. Und die sind meistens in Restaurants...

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