Samstag, 24. Oktober 2009

Erkenntnisse

(Wird laufend erweitert. Jedesmal, wenn ich darüber nachdenke, gehen mir neue Lichter auf...)

Ich bin eigentlich nur aufgebrochen, um 800 Kilometer am Stück alleine zu gehen. Erst auf dem Weg selber ist mir aufgefallen, wie einfach (eventuell zu einfach) es ist, Parallelen zwischen dem Jakobsweg und dem "wirklichen Leben", dem eigenen Lebensweg zu sehen.
Man kann mit Fug und Recht einwenden, dass ein Wanderweg in Spanien, wo man mit lauter gleichgesinnten unterwegs ist, alle das gleiche Ziel haben, dass so ein Spaziergang in einem geschützten Raum, in einer Zone mit eigenen Gesetzen stattfindet. Täglich ein paar Kilometer Latschen hat doch nichts mit den Herausforderungen des Lebens zu tun, mit Projektleitung, Kinder grossziehen, Facebook beantworten.
Trotzdem denke ich, dass gerade weil alles so einfach ist, weil man sein Leben auf des Wesentliche herunter bricht, man frei von Störsignalen, frei vom Grundrauschen der täglichen Hektik tiefer in sich hin einhorchen kann. Die simple Symbolik von Pfeil, Brücken, Verzweigungen, Abkürzungen oder Umwegen helfen (mir jedenfalls), viele Verhaltensweisen zu Begründen oder mindestens bildlich darzustellen. In diesem Sinne habe ich nichts Neues über mich herausgefunden, aber ich kann mir und anderen jetzt einiges besser erklären.
Die Liste der Erkenntnisse ist nicht abschliessend, und vieles ist wohl trotzdem nur für mich selber verständlich. Aber ich bin ja auch für mich selber gelaufen.

Also los:

A) Ich muss mein Tempo gehen.
Im Leben wie im Camino gehe ich zwar schneller als die meisten anderen, aber nicht weiter.
Camino: Ich bin früh aufgebrochen, hatte ein hohes Schrittempo, habe kaum Pausen gemacht. Ich komme nur gerne früher an, damit ich mehr Pause habe. Und am Abend habe ich trotzdem immer wieder die gleichen Leute gesehen.
Leben: Wenn ich irgenwo dran bin, lasse ich mich nicht gerne aufhalten oder ablenken. Das erweckt den Eindruck, ich sei schneller unterwegs, ein Streber, der seine Energie verpufft. Viele Leute wollen drum mit mir nichts zu tun haben, weil sie denken, ich hänge sie ab. Das stimmt aber nicht. Vielleicht kann ich ein Theaterstück schneller auswändig, aber ich spiele es ja doch nicht früher als die Mitspieler, und ich spiele doch nur eine Rolle und diese nicht schneller oder lauter.
Wenn ich mein Tempo gehen will oder muss, dann hat das nichts mit Egozentrik oder Egoismus zu tun. Andere profitieren nämlich von meinem (vorübergehenden) Vorsprung. Auf dem Camino habe ich mir etliche Bier damit verdient, weil ich schon an Ort war und die nachfolgenden Pilger mit Tipps betreffend Unterkunft und Restaurants versorgen konnte.
Abgesehen von all dem ist 'alleine gehen' die wirksamste Methode, Verletzungen zu verhüten. Das stand sogar auf einem Plakat in einer Herberge. "How to avoid injuries: 1. walk at your pace, not at the pace of someone else. 2. drink enough water 3. etc" Vor allen medizinischen Ratschlägen stand also der Rat, sein eigenes Tempo einzuschlagen, nicht dem anderer zu folgen...

B) Ich funktioniere gut in einfachen Strukturen.
Ich werde zwar oft als komplizierter Mensch bezeichnet, kann mich aber sehr gut auf ein Minimum reduzieren und mich an einfache Abläufe und Strukturen gewöhnen. Es bereitet mir keine Mühe, jeden Tag aufzustehen, kurz ins Buch zu schauen und los zu marschieren. Ich kann mich sehr lange damit zufrieden geben, immer die gleiche Hose anzuziehen. Ich stehe nicht jeden Morgen auf, um den Sinn des Lebens neu zu ergründen. Ich bin eigentlich ganz einfach gestrickt. Nach getaner Arbeit ein Bier kippen, mit Leuten schwatzen, Schlafen gehen. Viel raffinierter brauche ich es im Grunde genommen nicht.

C) Ich denke trotzdem mit.
Obiges hindert mich trotzdem nicht daran, mitzudenken. Ich vertraute zwar den Pfeilen, bin aber auch abgewichen, wenn es offensichtlicher Unsinn war. Manchmal sah ich von weitem, dass man eigentlich geradeaus durch ein Dorf marschieren kann, aber die Pfeile einem zu den Bars und Souvenirshops lotsen wollen. Das mache ich dann nicht mit.

D) Ich bin kein Herdentier.
Ich habe mich auf dem Marsch nie einer Gruppe angeschlossen. Nicht weil ich Eigenbrötler bin, sondern
wegen Punkt A: ich muss mein Tempo gehen, nicht zuletzt auch meinen Mitwanderern zuliebe. Abgesehen davon denke ich, dass nicht immer alles richtig ist, nur weil es die meisten so machen. Beispielsweise bin ich die erste Etappe nicht wie alle anderen an einem Stück über die höchsten Gipfel, sondern in zwei Teilen der ebeneren Strasse nach gegangen. Es haben mir dann fast alle Recht gegeben. Hinterher natürlich, wie im richtigen Leben...

E) Ich bin beliebt.
Obwohl ich tagsüber meist alleine unterwegs war, musste ich nach ein paar Tagen fast nie mehr alleine zu Abend essen. Wildfremde Leute haben sich zu mir hingesetzt, alte Männer oder hübsche junge Mädels. So unnahbar und abweisend, wie ich in letzter Zeit beschrieben wurde, kann ich also nicht sein. Wer mit sich selber klar kommt, hat auch mit mir kein Problem. Nur die Alphatiere, die notorischen Tischgesprächsbeherrscher hatten keine Freude an mir, weil ich über abgedroschene Witze nicht lache und weil ich mich nicht für ihre Zwecke einspannen lasse. Weder auf dem Camino noch daheim.

F) Ich brauche ein klares Ziel oder gar keines.
Ich marschiere bzw. funktioniere sehr ineffizient, wenn man mir das Ziel, die Vorgaben oder die Richtung immer wechselt. Ich habe gerne, wenn ich weiss, dass ich nach Santiago muss, und wenn Santiago immer im Westen liegt. Ich suche mir den Weg dahin schon, und ich bin auch nicht unflexibel, wenn es geht, den Umständen zu trotzen, um mein Ziel zu erreichen.

G) Wenn der Weg klar ist, brauche ich keinen Pfeil.
Es kam oft vor, dass z.B. auf einer Strasse oder gar Brücke, wo man sowieso nur geradeaus gehen konnte, alle zwei Meter ein dicker gelber Pfeil war. Nach der Brücke, an einer Verzweigung mit mehreren Strassen, da hatte es dann natürlich nichts. Das passiert mir so oft auch im Leben: wenn alles klar ist, deckt man mich mit Ratschlägen ein, die ich nicht brauche. Wenn ich nicht weiter weiss, stehen dieselben Ratschläger vornehm auf die Seite mit dem Hinweis, ich müsse jetzt mal selber denken, schliesslich hätten sie mich jetzt ja andauernd führen müssen. Macht mich rasend.

H) Ich bin in Ordnung.
Ich glaube nicht, dass ich die alleinige Schuld an den letzten Querelen meines Lebens trage. Ich habe mich nur zu oft in falschem Gelände bewegt. Ich war wie ein VW Käfer, den man als Geländewagen einsetzt. Ein gutes, einfaches Auto, das läuft und läuft, aber im Schlamm irgendwann stecken bleiben muss. Es nützt nichts, ihn hereuaszuziehen, ein bisschen putzen, ausbeulen und wieder im Gelände auszusetzen. Er wird wieder stecken bleiben. Der Käfer gehört auf die Strasse.

I) Ich kann meine Kräfte gut einteilen...
...wenn man mich lässt. Ich hatte nur in letzter Zeit gar nicht die Möglichkeit dazu. Ich habe auf dem Camino bewiesen, dass ich Haushalten kann. Ich habe der Versuchung widerstanden, zu weit zu gehen. Ich bin ohne Beschwerden, ohne am Anschlag zu gehen, mit Reserve am Ziel angekommen.

J) Man kann 1000km gehen ohne einen Schritt weiter zu kommen.
Die meisten Leute ändern sich wohl nicht auf dem Camino. Ich denke, dass höchstens die Eigenschaften, die man ohnehin hat, stärker hervor treten. Wenn man die vielen verkrachten Ehepaare und mürrischen Nörgler sieht, fragt man sich schon, was die wohl von dem Ganzen mit nach Hause bringen.

K) Man kann zu lange auf einem Weg sein.
Ich sah so viele Leute, die der Weg egozentrisch gemacht hat, die nur noch sich selber wahrgenommen haben, die rücksichtslos in Zimmer gefurzt und WCs überschwemmt haben. Man muss merken, wann ein Weg zu Ende ist.

Ob meiner zu Ende ist, kann ich noch nicht sagen. Aber ich bin sicher ein gutes Stück darauf gegangen!

1 Kommentar:

Unknown hat gesagt…

Respekt!!!
ich wünsche dir, dass du dein "Tempo" auch weiter beibehälst...

Es war sehr interessant zu lesen.

Boris