Mittwoch, 16. September 2009

E1a - Valcarlos

St-Jean-Pied-du-Port bis Valcarlos (km 12)
Halbetappe, 12km, 2 ½ Std, 10 Euro Herberge, 7 Euro Verpflegung

Die ersten Pilger sehe ich im Bahnhof von Bayonne. Sie stehen wie ich etwas ratlos vor einem einsam auf Gleis 1 stehenden Wagen und getrauen sich nicht, einzusteigen. Dieser einzige Wagen hat offenbar einen eigenen Antrieb und ist die ganze Zugskomposition für alle Pilger, die heute Mittag an die Startlinie wollen. Also nicht gerade viele; keine 10, um etwas genauer zu sein.

Ich hänge mich dieser mageren Schar an, weil ich schlicht weg zu müde bin und die geistige Kraft nicht aufbringe, den Weg zum Pilgerbüro zu suchen. Ich habe schon genug gesucht die letzten anderthalb Tage. Wer definitiv nicht gesucht hat, und zwar mich, ist das Pilgerbüro. Zuerst kommen die Typen erst eine Viertelstunde nach der angeschlagenen Öffnungszeit, dann muss ich mich als Nicht-Franzose outen, was mich mal schon nicht sehr beliebt macht, und dann fragt mich der strenge Herr doch, was ich denn hier wolle. Hm, das müsste der doch besser wissen als ich, er ist doch hier der Profi? Ob das hier nicht der Ort sei, wo man sich als Pilger zu Beginn registrieren müsse, ich hätte das irgendwo gelesen. Doch, doch, das sei so. Ja warum macht er es dann nicht? Erst als ich darum bitte, registriert zu werden, nimmt er eine riesige Liste hervor, fragt mich nach Heimatland, Beruf und so weiter. Ich muss dann das aber alles trotzdem selber in die Liste einschreiben, wo ich auch den Beweggrund meiner Reise ankreuzen darf. Religiös, spirituell, sportlich oder kulturell dürfen meine Gründe sein. Ich entscheide mich für spirituell. Ich will herausfinden, ob meine Selbsteinschätzung, wie ich denn funktioniere, mit dem Fremdbild, das man mir seit ein paar Jahren einpflanzen will, übereinstimmt. Das ist so kompliziert, das muss spirituell sein. Wo ich denn beginne. Na eben, hier. Meine Nerven flattern langsam, schliesslich habe ich eine durchwachte Nacht hinter mir. Ich hoffe wirklich, dass mich der Camino in Zukunft über solchen Sachen stehen lässt. Darum lasse ich das auch weiterhin über mich ergehen. Nein, der bringt mich nicht zum Ausflippen! Oder doch? Als ich nämlich nach einer Unterkunft mich zu fragen getraue, fragt der mich doch tatsächlich, ob ich zu Fuss hier angekommen sei, denn nur dann würde er mir mit einem Bett helfen. Hatte der Watte in den Ohren? Ich habe doch gesagt, dass ich hier beginne. Wenn ich zu Fuss gekommen wäre, hätte ich ja vorher begonnen?!? War das eine Fangfrage? Ich bin so verwirrt, dass ich mich von ihm mit der schnoddrigen Bemerkung aus dem Büro vertrieben lasse, ich solle doch selber schauen, ihm Dorf werde ich sicher etwas finden. Also frisch drauf los. „Chez Marie“ steht da, sie hat chambres feil, aber der Zettel an der Tür sagt, dass sie erst ab 17 Uhr empfänglich für Kundschaft ist. Keine Zimmerpreise angeschrieben, kein Hinweis darauf, ob’s denn überhaupt noch was frei hat. Ich könnte also bis 5 warten, um dann zu erfahren, dass ich mir das Zimmer nicht leisten kann oder unterdessen andere z.B. per Telefon die Zimmer weggebucht haben. Das gleiche Bild bei anderen Etablissements, ob sie nun „Chez Louise“ oder wie auch immer heissen. Was nun? Irgendwie will man mich hier nicht.

Da fasse ich einen spontanen Entschluss: ich werde Pilger! OK, ich bin’s ja schon, bin registriert, habe meinen ersten Stempel im Pilgerpass. Aber bis jetzt bin ich nur herumgefahren, herumgesessen und herumgeirrt, irgendwie nicht so richtig herumgepilgert. Nun, was hindert mich daran? Etwas mulmig ist mir dabei schon zu Mute, aber ich laufe los! Ich lasse los! Ich pilgere!!! So Hals über Kopf war’s schon nicht, einen Rest an Geistesgegenwart habe ich schon, um zu realisieren, dass ich die ganze, in allen Büchern vorgeschlagene Etappe nach Roncesvalles nicht mehr schaffe, schliesslich ist es bereits nach 15.00 Uhr. Ich weiss auch, dass es zwei Wege gibt: eine Art Höhenweg über die Gipfel der Pyrenäen, mit wunderbarer Aussicht an wunderbaren Tagen. Und einen unspektakulären, aber ebenfalls offiziell markierten Weg an der Strasse entlang, der bei zweifelhaftem Wetter sowieso empfohlen wird. Überdies sei das der ursprüngliche Pilgerweg. Die Pilger hätten damals nämlich nicht den Weg als solches herausgefordert. Die wollten vor allem sicher ankommen, nicht die Aussicht geniessen. Der Weg war weniger das Ziel, das Ziel war das Ziel. Ich finde, dass das ja wirklich kein wunderbarer Tag ist und ich ein echter Pilger sein will. Also der Strasse nach. Und da gibt’s nämlich in meinem Wanderführer auch ein Dorf auf halbem Weg, da kann ich ja Pause machen.

Ich fange an, erste Parallelen des Caminos zum ‚wirklichen’ Leben zu ziehen: auch in Valcarlos wartet niemand auf mich. Es beginnt zwar vielversprechend, bereits am Ortseingang steht ein Haus mit einer Muschel neben der Türe, Pilger willkommen. Aber ich gehe doch nicht gleich am erstbesten Ort anklopfen. Habe ich das nötig? Also tapfer dran vorbei, mal schauen, was der Ort sonst noch bringt. An der Durchgangsstrasse sind tatsächlich zwei Hotels, na also. So eines hätte ich mir ja auch verdient und in der Vorbesprechung mit meiner Finanzministerin ja auch einmal die Woche gönnen können. Und die Hotels sind auch angeschrieben mit ‚abierto’. Mein A5-Blatt mit ein paar Spanischwörtern drauf versichert mir, dass abierto ‚offen’ bedeutet, aber sehen tue ich anderes. Beide Buden sind dunkel, die Stühle stehen auf dem Tisch und es ist abgeschlossen. Also ganz kleinlaut zurück zum Muschelhaus am Anfang des Dorfes. Auch dunkel, wie mir jetzt auffällt. Auch geschlossen. Auch keine Reaktion auf Klingeln und Rufen. Na super. Mein Mut, spontan aufzubrechen und nicht wie die brave Pilgerherde auf den morgigen Tag zu warten und dann den Höhenweg zu meistern, wird also nicht belohnt. Meine erste Übernachtung wird also bereits im Freien stattfinden? Nein, das ist die erste Prüfung auf dem Weg, und die werde ich bestehen. Ich werde irgendeinen Eingeborenen fragen, ob er ein Dach über dem Kopf für mich hat, im Flur werde ich auf dem Boden liegen, und den ersten den ich frage, ist der Kerl im Laden, der jetzt doch noch aufgemacht hat und wo ich wenigstens etwas Proviant kaufen kann. Ich bin nämlich ohne Essbares aufgebrochen, nur noch etwa einen halben Liter Wasser habe ich bei mir. Auf dem Weg zur tienda entecke ich am Ende des Platzes, welcher der Dorfplatz sein muss, eine kleine, blaue Tafel ‚albergue’. Später werde ich auf kleine, blaue, gelb beschriftete Tafeln viel besser sensibilisiert sein... Etwas versteckt führt eine Treppe an der Aussenwand eines mehrstöckigen, in den Hang gebauten Hauses herunter zu einer braunen Eisentür, die natürlich auch geschlossen ist. Und auch da scheint niemand zu sein. Im oberen Teil des Gebäudes ist ein Kindergarten o.ä. untergebracht, und da höre ich jemanden hantieren, offenbar am Putzen. Ich getraue mich nicht, mit meinen doch schon etwas verschmutzten Schuhen im ganzen frisch gebohnerten Haus herum zu irren, ich will mich ja nicht am ersten Abend schon unbeliebt machen bei den Spaniern. Ich tigere also noch etwas unentschlossen zwischen Hauseingang und der Hintertreppe hin und her, bis mich die Frau durchs Fenster erspäht. Ich bin unvorbereitet darauf, jetzt plötzlich spanisch sprechen zu müssen. Ich habe jetzt also schon fast zwei Stunden mich gesehnt, endlich eine Menschenseele in diesem Kaff zu treffen, ohne mir zu überlegen, was ich den mache, wenn tatsächlich jemand da ist. Die Frau durchschaut aber eh, was jemand um diese Zeit mit Rucksack sucht und fängt an, halb spanisch, halb französisch auf mich ein zu sprechen. Ich höre nur „Mairie“, denke noch „angenehm, Rudi, aber ich will jetzt nicht anbändeln“ bis mir in denn Sinn kommt, dass damit das Gemeindehaus gemeint ist. Muss das grosse, weiss getünchte Haus oben am Platz sein. Also schnurstracks zurück, hoffentlich ist da um diese Zeit noch jemand. Und was sage ich? Ich kann kein Spanisch. Aber kein Problem, ich kann ja Hände und Füsse, Zeichensprache eben, benutzten. Pustekuchen. Am Gemeindehaus muss ich mich durch alle Knöpfe klingeln, bis endlich eine Antwort kommt, und die kommt aus einem Lautsprecher, und ich soll in ein Mikrofon sprechend mein Anliegen vortragen. Nix mit Zeichensprache! Ich stammle knapp ein „Soy peregrino...“ hervor, da geht’s los wie ein Maschinengewehr, die Dame am anderen Ende des Mikrofons weiss, was ich will, ich nicht, was sie sagt, aber sie kommt mit einem Post-it-Zettel herunter. Darauf ist die Zahl 1903# gekritzelt. Das sei ein codice, den könne man eintippen. Sie will mich unbedingt bis zur Treppe am Ende des Platzes begleiten, obwohl ich das Dorf inzwischen so gut kenne, dass ich Führungen machen könnte. Hoffentlich wartet sie aber noch so lange, bis ich weiss, dass der Code auch funktioniert, denke ich noch, aber da springt die Türe schon auf und ich bin drin! Ich stehe in einer tiptop gereinigten, gut ausgerüsteten Küche, habe zwei Schlafräume mit je drei Duschen und je zwei WC’s zur Auswahl. Ausser mir ist nämlich niemand da. Stimmt, das sind ja alles ‚richtige’ Pilger, nicht solche Weicheier wie ich, und quälen sich morgen über die Aussichtshügel etwa vierhundert Höhenmeter ob mir. Ich getraue mich kaum, in dem piekfeinen Haus etwas anzurühren, so sauber ist’s. Irgendwann kommt noch eine Fee mit langen, blonden Haaren, will zehn Euros von mir und verschwindet gleich wieder. Sie hätte auch bleiben können, hat doch Platz! Ich beschliesse, es mir so gemütlich wie möglich zu machen, eile nochmals zur tienda, die tatsächlich auch noch offen hat, kaufe mir meine erste Chorizzo-Wurst und mein erstes Bier. Beide sollten nicht die letzten sein...


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