Mittwoch, 23. September 2009

E7 - Navarrete

Viana bis Navarrete (km 171)
23km, 4.5 Std, 5E Herberge, 10E Pilgermenu, 4.50 Bier:-)

Habe mal wieder eine wie mir scheint schlaflose Nacht verbracht. In diesen riesigen, gut gefüllten Schlafsälen der offiziellen Herbergen scheint jede Nacht ein Wettbewerb "Spanien sucht den Superschnarcher" statt zu finden, oder mindestens die Vorausscheidung dazu. Der Typ schräg gegenüber sollte es locker in den Final schaffen. Es zeigt sich immer mehr, dass nicht das Gehen die Herausforderung für mich ist, sondern die Zeit dazwischen. Der Schlafentzug macht mich müde, das Marschieren ist die Erholungsphase zwischen zwei Nächten. Aber das wird sich auch noch einpegeln, spätestens wenn ich mich an die Ohrenstöpsel gewöhnt habe. Ich trage sie noch selten, weil die so gut sind, dass mein eigenes Blut wie ein Felsbach durch meine Gehörgänge rauscht und ich drum nicht schlafen kann.



Kunst findet in Spanien buchstäblich an jeder Ecke statt.

Peter ist wieder bei mir, dazu eine proppere Bayerin; die beiden sind auch vor dem Kampfschnarcher geflüchtet schon seit 7 Uhr auf der Suche nach gelben Pfeilen. Es ist um die Zeit immer noch dunkel, und Gelb sieht man dann einfach nicht so gut, auch mit Taschenlampe nicht. Aber sechs Augen sehen mehr. Kurz nach 9 Uhr passieren wir den Stand von Dona Maria, eine feste Gösse auf dem Camino, an der man gemäss Wanderfibel nicht achtlos vorbeigehen sollte. Die Dame ist aber schlecht drauf und will uns nur einen Stempel in den Pass drücken, gegen Entgelt natürlich. Wir kriegen jeden Abend einen Stempel in den Pass, also leuchtet uns eigentlich nicht ein, was das hier soll. Unsere offensichtliche Ignoranz hebt ihre Laune auch nicht und wir flüchten, ohne genau wissen zu wollen, was sie uns hinterher ruft...


Der Eingang zur Herberge ist unter den Lauben etwas versteckt.

Ab 10 Uhr bin ich dann alleine: Peter eilt voraus, das Bayernmädel will Pause machen. Einen Moment lang grüble ich darüber nach, was an mir wohl heute nicht gut sei, ob ich wohl stinke oder so, aber ich merke bald wieder, dass ich alleine lockerer laufe. Die Etappe kam mir heute sehr kurz vor, kürzer als die 23km. Um halb 12 bin ich bereits in Navarrete, dem im Buch vorgeschlagenen Etappenort. Ich halte mich übrigens immer noch an den Höllhuber, bis jetzt hat sich dessen Aufteilung bewährt. Morgen könnte ich das erste Mal ausbrechen, da will er nämlich nur 16 km von mir. Das dünkt mich dann doch ein bisschen wenig, obwohl ich immer noch versuche den "Ball flach zu halten", dass heisst, ich widerstehe der Versuchung, weiter zu gehen, auch wenn ich wie heute früh vor einer noch verschlossenen Herberge stehe. Diese Zeit lässt sich nämlich heute trefflich unter dem Sonnenschirm bei zwei, drei Bierchen überbrücken. Dort haben sich zwei Freaks aus Finnland niedergelassen, die aussehen wie Clochards. Aber das Äussere täuscht, die beiden entpuppen sich als ausgesprochen gebildete, tolerante und eloquente Gesprächspartner. Im Gegensatz zu einem mittelalterlichen (ich schreibe das absichtlich so) Ehepaar, dass einen Tisch weiter entfernt sich in unsere Plauderei einmischt und alles besser weiss. Meine Aussage, dass ich auf dem Camino bisher gut ohne Spanisch ausgekommen sei, findet die Dame voll daneben. Wenn man schon in ein Land komme und Kultur und Kontakt zu den Einheimischen suche, habe man gefälligst auch die Sprache zu lernen. Ich frage sie, woher sie den wisse, was ich hier suche und abgesehen davon hätte ich den Eindruck, dass die lieben Einheimischen mir nicht Gratis-Spanisch-Lektionen geben, sondern vor allem Bier verkaufen wollen. Einer der "Clochards" spendiert mir daraufhin spontan ein Bier...

Das Mädchen aus Bayern steuert die Strasse hinauf, mit hochrotem Kopf, verschwitzt. Ich winke, aber sie schaut demonstrativ durch mich hindurch und zieht von dannen. Habe ich etwas Dummes gesagt heute Morgen oder ist sie im Delirium, im Endorphinrausch? Noch andere Gesichter tauchen auf; man kann sich hier wirklich hinsetzten und warten, bis die Welt an einem vorbei zieht; auch das ist etwas, was mir am Frühschicht-Pilgern gefällt. Der hühnenhafte Schwede von gestern schleppt seine Muskeln auf den Stuhl neben mir. Er ist klatschnass, muss seine Füsse verarzten und ist mit seinen Schuhen nicht ganz per Du. Meiner Meinung nach sind das ausgewachsene Bergschuhe, die er da trägt, und die braucht's nicht. Er hat sich das Ganze wohl unwegsamer vorgestellt. Er findet, dass ich ein horrendes Tempo anschlage und ich das nicht lange durchhalte. Der ist gut: selber dem Tod nahe, aber mir Tipps geben. Das hatte ich doch schon mal; genau, der Ferrari in Puente. Irgendwie scheine ich einen bemitleidenswerten Eindruck auf die anderen zu machen, oder wieso wollen mir alle helfen? Ich habe ja bis jetzt überhaupt keine Probleme?!? Ich wende ein, das ich ja auch nicht weiter sei als er, also nicht zu schnell gehe. Ich verkneife mir noch die Bemerkung, dass er mir wesentlich kaputter erscheint als ich. Es scheint überhaupt so zu sein, dass die eher kleinen, schmächtigen Leute besser zum Gehen geeignet sind als die, die ohne Rucksack schon mehr herumtragen, sei es nun Fett oder Muskeln.



Nicht immer bietet die Aussicht Erhebendes...

Im Grossen und Ganzen führe ich ein ungewohnt seriöses Leben auf dem Camino: Nachtruhe ist um 10 Uhr abends, und zwar Punkt 22 Uhr! Fast wie im Militär, nur noch schlimmer: diese Herberge zum Beispiel wird um zehn geschlossen, wie die meisten. In Viana wurde sogar ein Balken vor die Türe gespannt! Im Herr konnte man wenigstens noch an der Wache vorbeischleichen, aber hier ist Sense! Und das ganze Gepäck wäre ja drin! Ich habe nie versucht, herauszufinden, ob einem die anderen Pilger hereinlassen würden, sondern bin immer mit gehörigem zeitlichen Polster "eingerückt", so auch heute, wo ich wieder einmal die Vorzüge des Einzelpilgerns schamlos ausgenützt habe: ich hatte beim Nachtessen eine ganze Flasche Wein für mich alleine, und nicht mal schlechten. Diese Bettschwere war auch nötig, um die ewig quasselnde finnische Kolonie im Zimmer zu ertragen. Ich dachte immer, Finnen seien so schweigsam, sitzen ganze Polarnächte im Kreis und tun nichts anderes als sich anschweigen und Fette kauen? Es stimmt also, dass der Camino einem verändert...

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