Donnerstag, 17. September 2009

E1b - Roncesvalles

Valcarlos bis Roncesvalles (km 26)
Halbetappe 14km, 3 Std, 6E Herberge, 9E Essen

Die zweieinhalb Stunden Spazieren gestern Nachmittag können mich kaum so müde gemacht haben. Aber zusammen mit der durchgerüttelten Nacht im Bus und der emotionalen Verkraftung der Tatsache, dass auf dem Pilgerweg niemand auf mich gewartet hat, führte das zu einem schon lange nicht mehr gekannten Schlafbedürfnis. Ich muss wohl gegen 10 Stunden gepennt haben, bin nach halb acht aufgewacht und ganz, ganz langsam aufgestanden. Ich sehe immer noch Eisenstangenbetten vor mir, ich habe also nicht geträumt. Ich bin mutterseelenallein auf dem Pilgerweg. Irgendwie ist es für mich beruhigend, dass das jetzt mal klar ist, andererseits weigere ich mich irgendwie, das zu akzeptieren: Ich zögere den Weitermarsch hinaus, und zwar ziemlich lange. Ich weiss offensichtlich die Zeichen noch nicht richtig zu schätzen, es steht nämlich noch Kaffeepulver in der Küche, die Maschine funktioniert, und selbst zwei Magdalenas, also kleine Küchlein, stehen bereit. Wo also ist mein Problem? Mir mangelt an nichts, habe mit dem Frühstück sogar mehr als erwartet. Meinen Beinen geht es gut, sie konnten sich ja gestern sanft einlaufen. Meine Stimmung bessert sich merklich, als ich das alles Mal zusammenzähle. Bin ich schon am Lernen auf dem Camino? Ich habe gut geschlafen und gegessen, das Wetter ist freundlich, also bin ich es auch!


Einsamer Weg über die Pyrenäen.

Da auch der Weiterweg nach Valcarlos mehr oder weniger dem Verlauf der Autostrasse folgt und die wenigen Exkurse ins Unterholz gut markiert sind, erreiche ich das Kloster von Roncesvalles frisch und nahezu ausgeruht. Und ziemlich als erster, denn die anderen Pilger sind ja alle wie die Lemminge über die Pyrenäenwipfel geklettert und haben drum nicht nur die doppelte Streckenlänge, sondern auch viel mehr Höhenmeter in den Beinen. Und vielen sieht man das auch an: Blasen sind noch das kleinste Übel. Einige erzählen von Oberschenkelkrämpfen, andere sind offensichtlich unterzuckert oder dehydriert, und einige tragen veritable Fleischwunden an den Fersen. Schlimme Bilder. Ich habe fast ein bisschen ein schlechtes Gewissen. Aber nicht lange. Es sind viele darunter, die den Kerkeling gelesen haben, der ja ganz plastisch beschreibt, wie man es nicht machen soll: gehe nicht am ersten Tag die strengste Etappe, wenn du a) untrainiert bist und es b) Alternativen gibt. Also entweder die Route über die Pyrenäen unterbrechen und / oder die ursprüngliche Route der Strasse entlang wählen. Dies ist übrigens ganz im Sinne des ursprünglichen Pilgertums: nicht der Weg ist das Ziel (auch wenn es die modernen Pilger immer wieder behaupten), sondern das Ziel ist das Ziel. Ich will ankommen. Also gehe ich nicht das Risiko ein, mich jetzt schon lahm zu legen. Ich habe dazu noch fast 800km Gelegenheit, warum also am ersten Tag? Dass so viele untrainierte Pilger das machen, hat anscheinend einen ganz simplen Grund: weil es in den Wanderführern so steht. Ich bin also, wie früher im Leben so oft, nicht der Masse gefolgt und muss sagen, ich habe es nicht bereut. Und das wollte ich mir für den weiteren Verlauf merken: es ist durchaus nicht verboten, den Kopf zu benützen, auch wenn die nächsten paar Wochen die Füsse das Regime führen!


Der berüchtigte Konvent von Roncesvalles.

Im Kloster werde ich, wie in Zukunft noch öfters, in eine Liste eingetragen, mein Pass wird gestempelt als Beweis, dass ich hierher gepilgert bin (wobei ich ja auch mit dem Auto hätte hierher kommen können...) und ich werde gefragt, ob ich auch ein Bett wolle. Ich zögere einen Moment, den die Lektüre des eben angeführten Kerkelings müsste mich ja eigentlich davon abhalten. Da war die Rede von Fusspilzaustausch aufgrund ungefeudelter Duschtassen. Aber ich finde, dass die Klosterherberge Kult sein muss, abgesehen davon hatte ich es ja letzte Nacht quasi auf Reserve so richtig gut. Zugegeben, auch der Zimmerpreis von 40 Euro im Hotel gegenüber war ein Argument. Ich werde vom Bettwächter als „jung“ eingestuft und soll drum ein oberes Kajütenbett nehmen. Meinen Einwand, dass ich doch auch schon näher bei 50 als bei 40 bin, lässt er nicht gelten: ich sei eben „young at heart“. Ich beschliesse, das als Kompliment zu nehmen, denn ich zehre immer noch von der positiven Energie, die mir das gestrige Erlebnis und zugegeben die heutige kleine, aber doch vorhandene Schadenfreude gebracht haben.


Der noch berüchtigtere Schlafsaal des berüchtigten Konventes.

Die Duschen wären sauber, aber es hat nur deren vier für weit über hundert Leute! Da ich heute am wenigsten geschwitzt habe, lasse ich den anderen den Vortritt und verziehe mich in eine Bar. Dort erfahre ich dann per Zufall, dass man ein abendliches Pilgermenu vorbestellen kann (bzw. muss, wenn man eines will; einen Laden für Proviant gibt es nicht!) und lerne einen meiner wichtigsten spanischen Sätze: „Una canja, por favor.“ Ein Glas Fassbier, bitte. Tönt auf Deutsch wesentlich holpriger. Ich plaudere mit Manuel eine ganze Weile lang in Englisch, bis wir drauf kommen, dass wir beide aus dem deutschsprachigen Raum kommen. Das wird auch so ein Running Gag auf dem Camino: Herausfinden, was der andere spricht oder, falls man eben genau nichts mit ihm zu tun haben will, verstecken, was man selber spricht. Wir sind auch beim Nachtessen zusammen, was eher Zufall ist, denn die Türe zum grossen Pilgerspeisesaal wird minutengenau um 19.30 geöffnet, aber man darf nicht einfach eintreten sondern wird von einer sehr gestrengen Dame nach und nach hereingerufen und an einen Tisch verwiesen. Das hat auch seinen Vorteil: gerät man mit jemandem zusammen, den man gar nicht mag, ist man wenigstens nicht selber schuld... Um Punkt 22 Uhr wird übrigens die Herberge geschlossen; man kommt dann nicht mehr rein, auch wenn man seinen Plunder schon drin hat. Da aber sonst rein gar nichts läuft im „Dorf“, das nur aus einer Durchgangsstrasse, einem überdimensionierten Kloster und zwei Restaurationsbetrieben zu bestehe scheint, haben wir genügend Zeit, uns im Tischgespräch durch sämtliche abendländischen Sprachen zu stottern.


Platz ist der wahre Luxus...

Mein Magen ist sich warme Mahlzeiten nicht mehr gewohnt (die letzte hatte ich vor drei Tagen) und gibt mir das mit Rumpeln und Grollen zu verstehen. An Schlaf ist darum kaum zu denken. Ich hätte es wohl auch sonst kaum geschafft: mir fällt erst im Schlafsack liegend auf, dass der riesige gemauerte Schlafsaal, in dem gemäss Wanderbuch etwa 140 Betten stehen, kein einziges Fenster hat, das geöffnet werden kann! Und die Bude ist heute fast voll. Ich liege die ganze Nacht wach, völlig verschwitzt, den Schnarchern zuhörend und bin richtig froh, dass das Aufstehen so rigoros gehandhabt wird wie die Nachtruhe: um 6 wird man geweckt, um acht muss man spätestens weg sein.

Keine Kommentare: