Freitag, 25. September 2009

E9 - Recedilla d.C.

Azofra bis Recedilla del Camino (km 225)
26km, 5 Std, 5E Herberge plus 10E Essen (Spende)

Das Rasieren gebe ich erst mal auf. Das gibt mir hoffentlich ein bisschen mehr "Pilger-Look". Ich leide sonst schon zuwenig, passe irgendwie nicht in das Bild der humpelnden und einbandagierten Gestalten. Dank meinem Body-Pack fehlt mir auch die typische, leicht vorgebeugte, demütige Haltung des Pilgers. Aber die soll ja eh' von innen kommen :-) Die Luxusherberge von Azofra wurde dann am Abend doch noch recht laut, es ging hoch her wie in einem Ferienlager. Alkohol, Spiele, Geschrei, einige feierten ihre ersten absolvierten 200km. Irgendwie wird mir in all dem Trubel unwohl. Ich bin in eine Welle Deutscher (sind nur laut im Rudel) und Spanier (sind immer laut) geraten, muss mir überlegen, wie ich da wieder raus komme.

Heute Morgen gehe ich zur Sicherheit mit der Östrerreicherin los, um mich nicht wieder im Halbdunkel zu verlaufen. Die Dame ist recht rüstig und ziemlich konsequent: sie reisst die Seiten mit den bereits absolvierten Etappen aus ihrem Wnderführer (sie hat auch den Höllhuber...), um Gewicht zu sparen! Das Wetter ist immer noch trocken, fast alles Asphalt- und Staubstrassen. ich kann den ganzen Tag in den ausrangierten Laufschuhen absolvieren; mein kleiner Zeh rechts ist dankbar. Bis Santo Domingo laufe ich durch wirklich einsame, ausgedörrte Gegenden, und vermutlich darum ist mir die Stadt selber dann zu hektisch. Ich werfe nur einen kurzen Blick in die Kirche mit dem Hahn, der dort eingesperrt ist und dessen Krähen einem gutes Gelingen der Pilgerfahrt beschehren soll. Da es mir sowieso gut geht, muss ich darauf nicht warten und flüchte aus der Stadt. Auch die schlechte Beschilderung hält mich nicht auf.



Auf solchen Etappen kann man schon ins Grübeln kommen: wo führt mein Weg mich hin?

In Recedilla del Camino (auch wieder so ein Name, den ich am nächsten Tag nicht mehr weiss...) beschliesse ich zu übernachten. Ich bin ja immer noch neben dem Höllhuber-Etappen-Korsett und geniesse ein bisschen diese 'Freiheit'. in der Herberge bin ich mal wieder der erste. Eine Premiere: die Übernachtung ist "gratis", es wird eine Spende erwartet. Ich schmeisse 5 Euros in einen Schlitz an der Wand. Es hat sogar Duschmittel, etwas, was ich langsam vermisst habe. Körperpflege immer nur mit dem Seifenklotz ist doch nicht das Wahre :-) Duschmittel schleppe ich übrigens deshalb nicht mit, weil da zuviel Wasser (=Gewicht) drin ist und weil es eine ziemliche Sauerei gibt, wenn das im Rucksack ausläuft. Mit einem Seifenblock passiert das nicht. Ich nehme mir heute sogar Zeit, die Augenbrauen zu schneiden! Anschliessend ertappe ich mich dabei, wie ich auf dem altersschwachen Internet-PC bereits Schaue, wann dann Busse für den Heimweg fahren würden. Spinne ich eigentlich? Das ist doch frühestens in einem Monat!?!



...nur um dann hinter dem Hügel festzustellen, dass es da genau gleich weiter geht...

Die Nachmittage können lang sein. Das hier ist ein auf der Landkarte eingezeichnetes Dorf. Es hat eine Strasse, eine Herberge mit Bar, eine wunderschöne Kirche mit Holzboden  und sonst: nichts, gar nichts. Ah doch, den obligatorischen Dorfplatz, wo ich mich für eine ganze Stunde auf eine Bank setze und auf Pilger warte. Es kommen aber keine. Ich begreif's nicht, wo bleiben die alle? Ich sehe nur eine halbverhungerte Katze, die versucht, auf einen Baum zu klettern und eine mindestens zweihundert Jahre alte Frau, die sich jetzt dann gleich die Eingeweide aus dem Leib hustet. Wer von den beiden stirbt wohl zuerst?



Bonjour Tristesse...

Der Pilger mit dem Handwagen ist gekommen, den ich beim Weinbrunnen schon einmal gesehen habe. Ich sehe zuerst nur seinen Wagen, versuche mich an die ersten, holprigen Etappen zu erinnern und frage mich, ob er die Karre überall durchzieht oder ob er Etappen abändern muss. In der total verdreckten, kleinen Bar der Herberge treffe ich ihn dann. Wir lästern ein bisschen über den in Spanien  in den Bars üblichen Dreck am Boden. Auch das Personal wirft die Nusschalen achtlos auf den Boden. Der Boden einer Bar scheint irgendwie zum Aussenbereich zu zählen, den man nur einmal täglich mit dem Besen kurz freipflügt. Jetzt weiss ich auch, warum die Bardame in Larrasaonia kein Problem mit meinen verschlammten Schuhen hatte...



Die Herberge in Recedille del Camino kann leicht übersehen werden.

Winfried heisst der Mann mit dem Wagen und er ist mein Vorbild: in dem Wagen hat er ein Zelt, und normalerweise übernachtet er damit im Freien, vorzugsweise in der Nähe eines Baches, zwecks Körperpflege. Nur so alle zwei Wochen, wenn es ihn anfängt zu jucken oder wenn er wieder mal etwas Konversation braucht, sucht er eine Herberge auf. Er ist also von einem Höllhuber-Etappen-Zwang unabhängig! Das Zelten sei übrigens kein Problem, solange man keinen Lärm mache, am nächsten Tag früh aufbreche und nichts zurück lasse. Er habe jedenfalls noch keinen Kontakt mit den Gesetzeshütern gehabt, und er habe doch schon tausende von Kilometern in ganz Europa und auch Spanien zurückgelegt. Er ist nämlich mindestens drei Monate im Jahr unterwegs. Er stammt aus der Ex-DDR, gibt einige Geschichten abseits der üblichen Ost-West-Klischees zum besten und erklärt mir, dass Campen damals so etwas wie die kleine Freiheit, die kleine Flucht vor dem allgegenwärtigen Staat war. Er ist definitiv mein Held. Ich bezahle ihm ein paar Bierchen, er revanchiert sich mit Kaffee am nächsten Morgen. Ach ja, er zieht den Wagen die ganze Zeit, über alle Hügel. Ich werde ihn vermissen.

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